Ein Jahr ISO 17100 – lohnt sich die Zertifizierung?

Helke Heino | 14.11.2016 | ,
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Eine persönliche Einschätzung

Seit rund einem Jahr können sich Freiberufler und Übersetzungsunternehmen nach der ISO 17100 zertifizieren lassen. Die Resonanz bei ersteren ist bisher eher verhalten. Nach Meinung der Autorinnen liegt dies unter anderem daran, dass vielen Kolleginnen und Kollegen diese neue Möglichkeit noch nicht bekannt ist, dass sie die damit verbundenen Kosten scheuen oder glauben, dass ihnen die Zertifizierung „nichts bringt“. Wir haben vor einem Jahr den Versuch gewagt und möchten über unsere persönlichen Erfahrungen
berichten. Dabei orientieren wir uns an den Fragen, die im Rahmen der ATICOM-Sprechstunden zum Thema ISO 17100 an uns herangetragen wurden.

Wird die Zertifizierung nach ISO 17100 von den Kunden verlangt?

Bisher wird nur vereinzelt danach gefragt. Dafür dürfte es mehrere Gründe geben: Zum einen kennen die Kunden, die nicht aus der Industrie kommen, diese neue Norm und die Zertifizierung häufig selbst noch nicht. Zweitens gab es in der Vergangenheit schon etliche Normen und Zertifizierungen, die sich mit mehr oder weniger Erfolg am Markt behauptet haben. Was wir aber durchaus feststellen, ist, dass sich Übersetzungsbüros nach ISO 17100 zertifizieren lassen wollen und deshalb um unsere Lebensläufe und andere Dokumente bitten. Im Rahmen dieser Zertifizierung müssen sie nämlich unter anderem nachweisen, ob und wie sie die Qualifikation und Qualität von externen Mitarbeitern prüfen und dokumentieren. Statt aber unsere Unterlagen aus der Hand zu geben, können wir nun darauf verweisen, dass wir bereits selbst nach dieser Norm geprüft sind und einfach unser Zertifikat präsentieren. Das erspart uns Zeit, Geld und Diskussionen und wir haben den Kopf frei für Wichtigeres.

Übrigens ist eine Registrierung bei der DINCERTCO keine Alternative zu einer Zertifizierung nach der ISO 17100. Mit der Registrierung ist die Erklärung – oder auch Behauptung – verbunden, dass man normkonform arbeitet, ohne dass geprüft und überwacht würde, ob die Vorgaben der Norm überhaupt bekannt sind, geschweige denn, ob sie eingehalten werden. Dies ist bei der Zertifizierung jedoch der Fall. Aus diesem Grund ist eine Registrierung nicht einmal eine „Zertifizierung light“ und wird von Kunden, die ausdrücklich eine Zertifizierung ihres Dienstleisters wünschen, nicht anerkannt.

Worin liegt nun der Unterschied zu diesen bisherigen Zertifizierungen – die haben wir doch bisher entweder nicht gebraucht oder sie waren schlicht für Freiberufler zu teuer oder organisatorisch undurchführbar?

Die neue Norm ist endlich so gestaltet, dass sie auch auf Freiberufler zutrifft und keinen großen Aufwand mit sich bringt. Man muss zum Beispiel kein schriftliches Handbuch abliefern und keine starren Verfahren einhalten, sondern Vorgaben erfüllen. Die ISO 17100 ist außerdem eine internationale Norm, die anders als die DIN 2345 und EN 15038 weltweit gilt – ein Vorteil bei international tätigen und ausländischen Kunden.

Wird man von den Direktkunden anders wahrgenommen?

Ja, und zwar positiv. Durch die Zertifizierung verschiebt sich die Wahrnehmung des Kunden, wie er uns als Dienstleister sieht. War man früher für ihn einer von vielen Dienstleistern, die mit austauschbaren Argumenten für sich werben (muttersprachliches Prinzip, Qualität, Zuverlässigkeit, Verschwiegenheit, Fachausbildung und langjährige Erfahrung), können wir nun darauf verweisen, dass wir uns für all diese Dinge und mehr der Prüfung durch eine unabhängige, externe Institution gestellt und sie bestanden haben – wie dies bei normalen Industrieunternehmen der Fall ist. Die Kunden schätzen es, wenn ein Dienstleister Geld in die Hand nimmt, seine Prozesse durchleuchtet, gegebenenfalls anpasst und sich außerdem Gedanken über nicht direkt mit der eigentlichen Tätigkeit in Zusammenhang stehende Themen wie Informationssicherheit macht. In allen Fällen, vor allem bei Reklamationen, ist das Argument der dauerhaften Tätigkeit gemäß den Vorgaben der Norm, der durchgängigen Erfüllung von Standards hinsichtlich der Qualifikation beteiligter Übersetzer und die Überprüfung der fertigen Übersetzung eine große Beruhigung für den Kunden. Er hat es mit jemandem zu tun, der genau weiß, was er macht und warum er es so und nicht anders macht und der das hat überprüfen lassen. Bei manchen Kunden führt der Nachweis der Zertifizierung zu regelrechter Erleichterung, nach mehreren schlechten Erfahrungen nun jemanden gefunden zu haben, der nicht nur behauptet, Qualität zu liefern, sondern sich das auch extern hat bescheinigen lassen.

Und was ist mit Maklern und Büros?

Wir beobachten, dass sie sich zunehmend auch nach dieser Norm zertifizieren lassen. Nur, dass Freiberufler das diesmal mit relativ geringem Aufwand genauso können und damit den Nachweis erwerben, dass sie auf gleicher Ebene wie Makler und Büros arbeiten, zumal es sich wie gesagt um eine internationale Norm handelt. Die Zertifizierung ist kein K.O.-Kriterium im Wettbewerb mit anderen Dienstleistern mehr, sondern zeigt, dass man unternehmerisch denkt und handelt. Preisdiskussionen werden zwar nach wie vor geführt, sind in der Regel aber schneller, früher und auf einem aus unserer Sicht guten Preisniveau beendet. Man ist einfach auf Augenhöhe.

Garantiert die Zertifizierung also höhere Preise?

Nein, der Preiswettbewerb besteht nach wie vor. Aber man hat mit einem externen Nachweis über die Erfüllung der Norm bessere Karten und Argumente. Vertreten müssen wir unsere Preisvorstellungen für unsere Leistungen nach wie vor selbst. So wie ein CAT-Tool uns nicht erspart, selbst übersetzen zu müssen, so kann uns die Zertifizierung nicht ersparen, uns und unsere Leistungen selbst an den Kunden zu verkaufen. Aber als Hilfsmittel hat beides etliche Vorteile und unterscheidet unserer Ansicht nach den Profi vom Nichtprofi.

Was hat sich noch geändert?

Wir meinen, die eigene Sichtweise auf unseren Beruf. Hinzugekommen ist die Vogelperspektive – die Fähigkeit, Rahmenbedingungen und Zusammenhänge zu erkennen und weitere Bereiche neben der eigentlichen Übersetzer- und Dolmetschertätigkeit zu erschließen, mit denen man gegenüber dem Kunden punkten kann und die ihm weitere Sicherheit bieten. Diese erweiterte Sicht auf unseren Beruf und die damit verbundenen, wichtigen Nebenbereiche vermittelt dem Kunden eine sehr hohe Professionalität, die nicht bei der Qualität der Auftragsdurchführung endet.

Ein Beispiel hierfür ist der Bereich der Informationssicherheit. Für viele ist dieses Thema mit der Installation einer Firewall und eines Virenschutzprogramms erledigt. Informationssicherheit bedeutet aber mehr und nicht nur, dass Verschwiegenheit über den Inhalt der Aufträge gewahrt wird – das ist selbstverständlich. Es bedeutet unter anderem auch die zufriedenstellende Beantwortung von Fragen nach der konkreten Umsetzung von Vertraulichkeitserklärungen, zum Beispiel in Bezug auf den Schutz der Vertraulichkeit von E-Mails beim Versand und bei der Archivierung auf dem PC, der Art des Versands größerer Datenvolumina, die über eine Plattform ausgetauscht werden müssen, oder die Anfertigung regelmäßiger Back-ups. Nutzt man hier in Deutschland z. B. die amerikanischen Plattformen Dropbox oder WeTransfer zur Versendung größerer Datenmengen, die auch personenbezogene Daten enthalten, hat man bereits das deutsche Datenschutzgesetz verletzt (§ 4 Abs. 1 BDSG). Daher sollte man in diesen Fällen entweder die Einwilligung der betroffenen Personen einholen oder eine Cloud-Lösung finden, die in Deutschland liegt und deren Server deutlich strengeren Vorschriften unterliegen als die der amerikanischen Konkurrenz. Über all diese Fragen haben wir uns im Rahmen der Zertifizierung Gedanken gemacht und unser Konzept angepasst.

Was ist das Fazit nach einem Jahr?

Die erwähnte Vogelperspektive ermöglicht es Freiberuflern, dem Kunden gegenüber ganz neu und besser zu argumentieren und unangenehme Diskussionen frühzeitig zu beenden. Das Auftreten gegenüber dem Kunden wird wieder ein Stückchen professioneller.

Die Zertifizierung nach ISO 17100 hat sich für uns als echter Wettbewerbsvorteil bei den Kunden und sogar gegenüber größeren Agenturen erwiesen, selbst wenn diese preiswerter gewesen wären. Vor allem Firmenkunden aus der Industrie, die selbst Qualitätssicherung betreiben müssen, springen auf die Zertifizierung an und sehen sie als Merkmal, das professionelle Dienstleister aus der Masse heraushebt. Für Firmenkunden ist damit erwiesen, dass sich der Dienstleister mit den Prozessen rund um seine Dienstleistung befasst hat und der Kunde sich aufgrund des Zertifizierungssiegels darauf verlassen kann, dass seine Aufträge nach international gültigen, professionellen Standards abgewickelt werden.

Richtig ist aber auch, dass mit einer Zertifizierung die Kundenerwartungen steigen. Dies kann durchaus dazu führen, dass man als Freiberufler an seine Grenzen gelangt. Art und Umfang der Projekte haben sich in den letzten Jahren geändert. Beispielsweise erwarten manche Kunden, dass man das Projektmanagement für mehrsprachige Projekte übernimmt oder dass für eine bestimmte Stundenzahl pro Tag per Fernzugriff auf dem firmeneigenen Server gearbeitet wird. Diese Erwartungen sind nicht immer ganz leicht zu erfüllen. Nicht vernachlässigt werden soll auch, dass ein gewisses Maß an disziplinierter Dokumentation in Bezug auf die Auftragsabwicklung erforderlich ist, damit gegebenenfalls nachvollzogen werden kann, wie und warum ein Auftrag so und nicht anders durchgeführt wurde (zum Beispiel bei Reklamationen).

Die Zertifizierung kostet doch Geld. Lohnt sich die Ausgabe und wie schnell amortisiert sie sich?

Wir betrachten diese Ausgabe als Investition in unsere Wettbewerbsfähigkeit und in uns als Unternehmerinnen bzw. als Unternehmen, genauso wie wir Weiterbildung, die Mitgliedschaft in Berufsverbänden, Hard- und Software, Visitenkarten und alles, was man eben für einen echten Geschäftsbetrieb braucht, als Investition sehen. Und wie bei jeder Investition muss man das Risiko eingehen, die Ausgabe erst einmal zu tätigen, bevor sie ihren Nutzen entfalten kann. Wie schnell sich die Ausgabe lohnt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, maßgeblich aber von einem selbst und wie man die Investition nutzt. In unserem Fall haben sich innerhalb weniger Monate positive Entwicklungen und Erfolge eingestellt, zu denen unserer Überzeugung nach das ISO-17100-Zertifikat einen deutlichen Beitrag geleistet hat.

Die Norm ist über den Beuth-Verlag erhältlich. Für 101,00 € steht sie als Download bereit. Die Norm wird auch Teil des Beuth-Taschenbuchs „Normen für Übersetzer und technische Redakteure“ sein, das im März 2017 erscheinen und ca. 78 € kosten soll (ISBN 978-3-410-27070-6). Weitere Informationen finden Sie direkt beim Beuth-Verlag.

Summa summarum: Würden wir uns wieder zertifizieren lassen?

Unsere Antwort ist ein klares Ja. Der Wettbewerbsvorteil ist so deutlich, dass wir auch die vorstehend erwähnten „Nebenwirkungen“ gern in Kauf nehmen.

Dieser Artikel erschien im FORUM 2/2016.

Beate MaierIsabel Schwagereit